Lernvideos - Wo liegt das Problem? (Teil 1)
Lernvideos sind spätestens seit der Corona-Pandemie in aller Munde oder treffender: auf allen Displays. In unserem Beitrag zur Evaluation des Distanzlernens (siehe: Evaluation EvT) haben wir uns sehr kritisch zum Einsatz geäußert und daraufhin auch einige Rückfragen erhalten. In diesem zweiteiligen Artikel setzen wir uns anhand einiger Beispiele mit der Problematik in Bezug auf die Fächer Mathematik und Physik auseinander.
Zur Fehlvorstellung des "modernen Unterrichts"
Der unkritische Umgang mit Lernvideos ist aus unserer Sicht ein zeitgenössisches Pendant zu früheren Forderungen nach Notebook-Klassen, iPad-Klassen, digitalen Tafeln, der Auflösung klassischer Unterrichtsfächer, mehr Gruppenarbeit, weniger "Frontalunterricht" etc. All diesen Forderungen ist gemeinsam, dass sie zu ihrer Zeit jeweils als "modern (und deswegen per se gut)" angepriesen wurden und dass sie sich auf die Sichtstruktur des Unterrichts beziehen. Dabei wird übersehen, dass die Gegensätze modern - altmodisch für den Unterricht keinerlei Relevanz besitzen. Sie mögen zur Charakterisierung einer Wohnungseinrichtung oder von Kleidung angemessen sein; beim Unterricht, ob in Präsenz oder Distanz, kommt es aber einzig darauf an, ob er erfolgreiches Lernen ermöglicht.
Die empirische Unterrichtsforschung zeichnet mittlerweile ein sehr umfassendes Bild von den Bedingungen, die lernwirksamen Unterricht ermöglichen (siehe: Wirksamer Unterricht). Dieser muss
- durch effektive Klassenführung einen geordneten Arbeitsrahmen schaffen, der konzentrierte Arbeit und effiziente Nutzung der Lernzeit überhaupt erst ermöglicht,
- die Schüler*innen zum intensiven Nachdenken anregen (sie kognitiv aktivieren),
- sie dabei konstruktiv unterstützen.
Dabei geht es um "inhaltsbezogene Interaktionsprozesse zwischen Lehrenden und Lernenden sowie der Lernenden untereinander und die Art der Auseinandersetzung der Lernenden mit den Inhalten" (Kunter & Trautwein 2013, S. 64). Während ein Blick ins Klassenzimmer sofort Auskunft über das Vorhandensein einer digitalen Tafel oder die stattfindende Sozialform gibt (z.B. Einzel- / Partner- / Gruppen- / Frei- / Projektarbeit, Stationenlernen, Unterrichtsgespräch), erschließt sich die entscheidende Tiefenstruktur nur indirekt. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:
- Ein Unterrichtsgespräch kann die Schüler*innen durch die richtigen Fragen, gegenseitige Bezugnahme und die Aufforderung zu stichhaltigen Begründungen zu sehr intensiven Denkprozessen anregen, aber es kann sich auch um demotivierende "Osterhasen-Pädagogik" handeln, bei der die Lehrkraft die Antwort wie ein Osterei versteckt, kleinteilige Fragen stellt und die Schüler*innen die Antwort erraten sollen.
- Bei Freiarbeit kann die einzige Freiheit darin bestehen, anregungsarmes und repetitives Material nicht einfach vorgesetzt zu bekommen, sondern sich die Details seiner Selbstkasteiung auch selbst zusammenzustellen. Anders gesagt bestünde die Freiheit dann darin, zwischen Aufgaben auszuwählen, die keine Denkfreiheiten zulassen.
- Gruppenarbeit kann strukturiert und zielorientiert ablaufen und durch die Kooperation einen Mehrwert bieten - muss dafür aber zum Lerngegenstand passen und angemessen geplant und angeleitet sein. Zu oft besteht sie aber aus einem unstrukturierten Durcheinander-Reden, bei dem am Ende das "Ergebnis" von einer Person abgeschrieben wird. In dieser Form handelt es sich um verdeckten Unterrichtsausfall.
- Beim Stationenlernen kann sich die Tätigkeit auf ein oberflächliches Stationen-Hopping und das gedankenlose Ausfüllen von Arbeitsblättern beschränken. Auf der Sichtebene herrscht reges Treiben, tiefere Denkprozesse werden indes nicht in Gang gesetzt.
In diesem Sinne gehen also pauschale Forderungen nach mehr Lernvideos, mehr Gruppen- oder mehr Projektarbeit am Kern der Sache vorbei. Wir beleuchten nun, welche Kritikpunkte bei aktuell verfügbaren Lernvideos besonders schwer wiegen.
Die bekannten Kanäle erklären nichts
Es ist fachdidaktisch unstrittig und mittlerweile auch im Kernlehrplan Mathematik verankert, dass der Unterricht wesentlich auf das inhaltliche Verständnis der Schüler*innen abzielen muss. Früher wurde im Mathematikunterricht vornehmlich zentral ein Inhalt vorgeführt oder fragend-entwickelnd erarbeitet und anschließend repetitiv eingeübt. Es ist jedoch unumgänglich, dass ein erheblicher Teil der Unterrichtszeit für entsprechende Aneignungshandlungen verwendet werden muss, die den Schüler*innen das Durchdringen der Inhalte und die Vernetzung mit bereits Bekanntem ermöglichen. Lernvideos fokussieren aber sehr häufig auf das reine Nennen einer Formel und das kalkülhafte Einsetzen von Zahlen, ohne den Versuch zu unternehmen, das Verständnis hinter der Formel oder ihre Anwendungsmöglichkeiten auszuloten. Sie sind allerdings nicht nur qualitativ fragwürdige Lehrervorträge im aktuellen medialen Gewand; vielmehr vermitteln sie auch den Eindruck, dass es im Mathematikunterricht ausschließlich um dieses kalkülhafte Rechnen ohne Sinn und Verstand gehe. Folgerichtig antworten Schüler*innen auf die Frage nach einer Erklärung für die Bruchmultiplikation regelmäßig mit dem Nennen der Regel "Zähler mal Zähler, Nenner mal Nenner". Die Begründung für diese Regel ist häufig unbekannt, wäre jedoch auch für die konkrete Anwendung der Bruchrechnung in Sachzusammenhängen essentiell: Wer die Rechnung 1/3 * 3/5 nur als Kalkül begreift, versteht nicht, dass hier ein Drittel von drei Fünfteln berechnet werden soll. Folgende Videos, die sich auf die Nennung der Regeln und Beispielrechnungen beschränken, können diese Ausführungen illustrieren: Beispiel 1 (youtube), Beispiel 2 (youtube) und Beispiel 3 (youtube)
Im Gegensatz dazu erklärt die EvT-Eigenproduktion die Multiplikation von Brüchen (siehe: EvT-Erklärvideo) ausführlich am Beispiel und enthält eine Aufforderung zur Selbsterklärung.
Zur Vermeidung von Missverständnissen sei darauf hingewiesen, dass direkte Instruktion ein sehr effektives Unterrichtskonzept ist, das nicht mit "Frontalunterricht" zu verwechseln ist (siehe: Direkte Instruktion). Wenn ein Verfahren bereits verstanden wurde und dann eingeübt werden soll, dann geschieht dies sowohl effektiv als auch effizient, indem die Lehrkraft die Durchführung zunächst stringent demonstriert. Allerdings schließen sich in der direkten Instruktion dann eine Überprüfung des Verständnisses und Phasen des angeleiteten und selbstständigen Übens an, die mehr als 80% der Unterrichtszeit ausmachen. Selbst wenn ein Lernvideo den Anforderungen für einen Kurzvortrag genügt, so liefern Schulbücher in der Regel nur Aufgaben für das selbstständige Üben. Für die dazwischen liegenden Phasen müsste zu jedem Video eigenes Material entwickelt werden.
Im zweiten Teil des Beitrags werden wir uns mit den speziellen Problemen naturwissenschaftlicher Lernvideos und den Anforderungen an das Lernen aus Videos auseinandersetzen. Diesen findet Sie hier.
Text & Bild aus EvT-Lernvideo: Dr. Daniel Wieczorek
(AK Distance Learning, Fachvorsitz Mathematik und Physik)
Der Autor bedankt sich bei Dr. L. Becker und
M. Schulte für hilfreiche Diskussionen.