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Lernvideos sind spätestens seit der Corona-Pandemie in aller Munde oder treffender: auf allen Displays. In unserem Beitrag zur Evaluation des Distance Learning (siehe: Evaluation EvT) haben wir uns sehr kritisch zum Einsatz geäußert und daraufhin auch einige Rückfragen erhalten. In diesem Artikel setzen wir uns anhand einiger Beispiele mit der Problematik in Bezug auf die Fächer Mathematik und Physik auseinander.

In Teil 1 dieses Artikels (siehe: Lernvideos I) wurde die Fehlvorstellung des "modernen Unterrichts" im Gegensatz zu lernwirksamem Unterricht beleuchtet. Weiterhin wurde herausgearbeitet, dass viele populäre Videos keine Erklärungen enthalten, sondern lediglich unverstandene Rechentechniken antrainieren. Teil 2 beleuchtet nun Schülervorstellungen als spezifischen Aspekt des Lernens in naturwissenschaftlichen Fächern sowie die Kompetenzen, die zum Lernen aus Videos verfügbar sein müssen.

Schülervorstellungen sind den Autoren der Videos anscheinend nicht bekannt

Bereits seit mehr als 15 Jahren ist wissenschaftlich unstrittig: Schüler*innen bringen unvermeidlich ihre Alltagsvorstellungen und Alltagssprache in den naturwissenschaftlichen Unterricht mit. Dem Unterricht soll es eigentlich gelingen, ausgehend von diesen Alltagsvorstellungen die Schülerinnen und Schüler davon zu überzeugen, dass ihre Vorstellungen in vielen Situationen nicht tragfähig sind und die angebotenen Deutungen sich besser bei der Erklärung alltäglicher Phänomene bewähren. Diese Hoffnungen konnten jedoch in der Vergangenheit zu oft nicht erfüllt werden: Es gibt sogar Belege dafür, dass Schülerinnen und Schüler die physikalische Sichtweise im Hinblick auf gute Noten reproduzieren können, sie aber nicht für wahr hielten! Besonders problematisch ist das Zusammentreffen von Schüler*innen mit Lehrkräften, die der naiven (und falschen) Vorstellung des "Nürnberger Trichters" anhängen: Der Kopf der Schüler*innen muss nach dieser Vorstellung nur mit Wissen befüllt werden, das dann zu gegebener Zeit wieder hervorgeholt werden kann. In dieser Sichtweise spielen Schülervorstellung überhaupt keine Rolle.

Konkrete Beispiele für Vorstellungen, die in den Unterricht mitgebracht werden und die nur schwer zu ersetzen sind:

  • Kraft ist proportional zur Geschwindigkeit
  • elektrischer Strom wird verbraucht
  • zwischen den Atomen bzw. Molekülen eines Gases befindet sich Luft (anstatt leerer Raum)
  • im chemischen / osmotischen Gleichgewicht kommt die Teilchenbewegung zum Erliegen
  • Spannung ist eine Eigenschaft des elektrischen Stroms
  • Aktive Körper üben Kräfte aus, passive leisten Widerstand
  • Evolution ist auf ein Ziel gerichtet
  • wissenschaftliche Theorien sind wilde Spekulation
  • Menschen werden resistent gegen Antibiotika

Kennt die Lehrkraft solche Vorstellungen nicht, dann wird sie viele Äußerungen von Schüler*innen nicht nachvollziehen können oder als falsch werten. Der weitere Unterricht führt dann nicht zum Abbau dieser Vorstellungen und die Unterrichtsinhalte sind vergessen, sobald der Unterrichtsraum verlassen wurde. Doch auch mit der Kenntnis ist es nicht getan: In der fachdidaktischen Forschung werden erhebliche Anstrengungen unternommen, um herauszufinden, welche Vorstellungen sich durch Konfrontation und welche durch einen vollständigen Neuaufbau korrigieren lassen und wie man dabei konkret vorzugehen hat. Ein Beispiel für eine Aufbaustrategie stellt das im Fach Physik eingeführte, zweidimensionale Mechanikkonzept dar (Link).

In Lernvideos mit hohen Klickzahlen werden solche Schwierigkeiten nicht nur ignoriert, sondern man muss ihnen zum Teil sogar den aktiven Aufbau falscher Vorstellungen vorwerfen, die man dann im Unterricht im Zweifelsfall nicht mehr vollständig korrigieren kann. Nicht selten werden auch fachliche Fehler eingebaut.

  • Ein besonders erschreckendes Beispiel ist das folgende, sehr häufig aufgerufene Video zum Thema Kraft: youtube. Dieses Video baut aktiv Fehlvorstellungen wie "Kraft ist proportional zur Geschwindigkeit", "Kraft ist dasselbe wie Energie" oder "Kraft ist eine Eigenschaft von belebten Körpern" auf. Zudem finden sich erhebliche fachliche Fehler: Ein Motor kann keine Kraft auf ein Auto ausüben (es ist die Straße, die die Kraft auf das Auto ausübt), und im Kräftegleichgewicht bleibt die Geschwindigkeit konstant und geht nicht sprunghaft auf Null zurück, wie im Video suggeriert. Ein zusätzliches Problem entsteht für Schüler*innen, die in ihrer Familie eher geringe bildungssprachliche Kompetenzen erwerben: Videos des verlinkten Kanals können als Anti-Sprachförderung bezeichnet werden.
  • Ein anderes bekanntes Video (youtube) ignoriert sowohl die Schülervorstellungen als auch jeglichen Verständnisaufbau. Es wird implizit behauptet, dass eine einzige Kraft einen Gegenstand ausschließlich verformen könne, was jedoch falsch ist. 

 

Die Anforderungen an das Lernen aus Videos werden massiv unterschätzt

Doch auch wenn verständnisorientierte Videos verfügbar sind, ist der Lernerfolg keineswegs garantiert. Erwachsene Befürworter von Lernvideos führen oft an, dass sie selbst auch mit Videos lernen können und übertragen dies implizit auf Schüler*innen. Dabei wird jedoch in der Regel übersehen, dass man über umfangreiches inhaltliches Vorwissen und hohe lernmethodische Kompetenz verfügen muss, damit das Lernen aus Videos gelingt. Kompetente Lerner*innen - insbesondere also solche, die selbst schon ein Studium absolviert haben - wenden während und nach dem Betrachten eines Videos automatisch ähnliche Techniken an, die auch das Lernen aus Vorlesungen ermöglichen:

  • Inhalte verschriftlichen,
  • Skizzen anfertigen,
  • aktiv über das Gesehene nachdenken / es mit Vorwissen verknüpfen,
  • sich fragen, warum das Gesehene korrekt ist,
  • mit anderen frei darüber sprechen.

Aus den Klick-Statistiken der Lernvideos lässt sich jedoch ableiten, dass sie von Schüler*innen mehrheitlich vor Klassenarbeiten konsumiert, d.h. ohne tiefere Verarbeitungsprozesse passiv angesehen werden. 
Franz E. Weinert, der Schöpfer des zeitgenössischen Kompetenzbegriffs, wies bereits früh auf den Erwerb lernmethodischer Kompetenz als eines der wesentlichen Ziele von Schulbildung hin. Gleichzeitig bemerkte er aber, dass das Aussprechen von Schlagworten wie "Lernen lernen" zwar sehr leicht über die Lippen gehe, sich die konkrete Umsetzung in der Unterrichtspraxis aber ausgesprochen schwer gestalte (Weinert, zit. n. Helmke 2015, S. 43).

Fazit und Ausblick

Selbst wenn qualitativ angemessene Lernvideos also irgendwann in der Breite zur Verfügung stehen sollten, so wäre der Distanzunterricht mit diesen Videos dennoch kein Selbstläufer. Es bedarf vielmehr gut auf solche Videos abgestimmter Aufgaben, die Schüler*innen systematisch zum Einsatz entsprechender Lerntechniken anleiten und auf diese Weise für einen hohen Grad an kognitiver Aktivierung sorgen. Bis dahin können wir nur empfehlen:

  • Mit Mathematik-Videos sollte aufgrund der fehlenden Verständnisorientierung vorsichtig umgegangen werden. Sie sind zwar in aller Regel zumindest fachlich korrekt, bedürfen aber entsprechender Reflexionsaufgaben.
  • Von naturwissenschaftlichen Videos ist zur Einführung von Inhalten auf jeden Fall abzuraten, da sie neben fachlichen Fehlern auch häufig Darstellungen enthalten, die falsche Vorstellungen forcieren. Um diese Darstellungen zu erkennen bedarf es in der Regel spezieller Kenntnisse aus der Fachdidaktik, weshalb solche Videos auch nicht zum Lernen in Eigeninitiative herangezogen werden sollten. Sie könnten allerdings nach erfolgtem Lernprozess im Aufgabenformat "Finde den Fehler!" eingesetzt werden und zu einem hohen Grad an kognitiver Aktivierung führen. 

Sind die zeitlichen und technischen Ressourcen vorhanden, könnte auch die Produktion eigener Lernvideos entlang der hier skizzierten Kriterien ein Gewinn für die Unterrichtsqualität sein. Dazu müssen Schüler*innen aber die Bereitschaft mitbringen, sich in die Adressaten hineinzuversetzen und ggf. ihre Skripte und Videos mehrfach zu überarbeiten.

Text & Bild aus EvT-Lernvideo: Dr. Daniel Wieczorek
(AG Distance Learning, Fachvorsitz Mathematik und Physik)
Der Autor bedankt sich bei Dr. L Becker und
M. Schulte für hilfreiche Diskussionen.